„Skandal! Beerdigt das Internet seriösen Journalismus?“ – Warum werden Überschriften immer reißerischer, lauter und seltsamer? Was früher dem Boulevard vorbehalten war, nutzen heute auch seriöse Medien und Blogger, um auf sich aufmerksam zu machen. Einer der Gründe ist dabei für mich, wie die Algorithmen von Google und Facebook damit umgehen. Und das ist ein Problem.
Während früher ein paar große Medienhäuser den Markt beherrschten, wird die Konkurrenz im Netz immer größer. Jeder der etwa mit WordPress umgehen kann, kann auch Nachrichten verbreiten. Das ist einerseits gut, weil es mehr Perspektiven und Herangehensweisen an ein Thema gibt. Das ist aber auch schlecht, weil alle etwas von den Klicks – und damit Werbeeinnahmen – abhaben wollen. Starke Offline-Marken wie BILD oder der SPIEGEL profitieren dabei oft noch von ihrer Bekanntheit, aber auch reine Online-Marken wie BuzzFeed oder DWDL.de haben sich aus dem Nichts eine beachtliche Online-Reichweite aufgebaut.
Drastische Formulierungen und Geschwindigkeit siegen oft über Vernunft und Sorgfalt
Das Problem daran: Der Überwiegende Teil – laut Analyse-Plattform parse.ly aktuell bis zu 90 Prozent – der Besucher kommt über die Google-Suche oder über Facebook-Links und Instant Articles. Die beiden Unternehmen haben also eine enorme Macht darüber, wer etwas von den Klicks abbekommt und wer nicht. Beide proklamieren, mit ihren Algorithmen den Nutzen die besten Ergebnisse liefern zu wollen. In der Realität bekommen aber oft die Anbieter die Klicks, die sich am besten den Regeln der Plattformen unterwerfen – und das ist ein Problem.
Wer bei Google etwa nach aktuellen Nachrichten, Problemen mit dem Computer oder einfach nur der Größe eines A4-Blattes sucht, landet schnell immer wieder auf den gleichen Portalen von Focus, Chip, Giga, Merkur.de & co. Wer viel bei Facebook unterwegs ist, trifft früher oder später auf die immer gleichen viralen Artikel und Videos – auch wenn es so skurrile Erfolge wie von Heftig.co, der nur auf Gaga-Inhalten basierte, in letzter Zeit nicht mehr so oft gibt. Trotzdem teilen Freunde, Influencer und der Algorithmus eben doch immer wieder das, was unglaublich oder spektakulär klingt, aber nicht so oft, wenn alles läuft, was der eigen Stadtrat so macht oder wenn mal alles „normal“ ist.
Selbst bei Nachrichten, die – etwa über die Deutsche Presse-Agentur – allen zur Verfügung stehen, sein es meist die, die am schnellsten sind und bei der Suchmaschinenoptimierung Google möglichst schmeicheln. Ist die Überschrift dann noch möglichst drastisch formuliert, teilt sich der Text auch deutlich besser auf Facebook und Twitter – Empörung zieht schließlich immer. Wer sich hingegen Zeit lässt und die Überschrift nüchterner formuliert, muss damit rechnen nur noch bedingt berücksichtigt zu werden.
Die Zwickmühle: Google und Facebook helfen, dass bestimmte Texte überhaupt gefunden werden
Die Zwickmühle daran ist: Ohne Google und Facebook würde man viele kleine Angebote gar nicht erst finden und man bräuchte wie in den Vor-Internet-Zeiten ein riesiges Budget und gute Kontakte, um seine Marke und seine Angebote bekannt zu machen.
Aktuell profitieren aber vor allem die davon, die die Algorithmen möglichst gut ausnutzen können. Jene die schnell sind, die erfolgreichsten Suchbegriffe kennen und Texte nach einem bestimmten Muster aufbauen und verlinken, sodass sich die Texte einer Seite sogar noch gegenseitig pushen. Der Ton im Netz wird dadurch einerseits immer mechanischer – wichtige Begriffe möglichst weit nach vorn in einer Überschrift, bestimmte Begriffe und Sätze ständig wiederholen – sondern auch immer mehr Themen werden zum Skandal, die früher eine Randnotiz gewesen wären. Es gibt nicht Probleme, sondern gleich eine „Krise“, eine Diskussion wird zum „Säbelrasseln“ oder der Einsatz für eine gute Sache zum „Kampf“. Fragen in Überschriften werden von der Ausnahme zum Standard und es gibt ständig neue Erkenntnisse, die angeblich für Leib und Leben total wichtig sind.
Um noch ausreichend Aufmerksamkeit zu finden, sind die Medien Dauererregt und wir alle müssen auch bei den simpelsten Fragestellungen mit Gaga-Texten kämpfen, weil vernünftige Formulierungen seltener zum Erfolg führen. Wie man das löst? Keine Ahnung.